Samstag, 22. März 2014

Visionen

Von P. Bernward Deneke FSSP, Wigratzbad 

Was sollten der Präsident der USA, der Topmanager eines Pharmakonzerns, die Kulturbeauftragte einer Bank und ein neugewählter Bischof haben? Die Antwort ist einfach: Visionen! Denn ohne sie wird man heute nichts mehr, erreicht man nichts, bringt man nichts weiter. 
 
Wir leben in einem visionären Zeitalter, überall begegnen uns Visionen. Bei Martin Luther King lautete die Losung noch eher bescheiden: I have a dream. Jetzt aber reicht das nicht mehr aus. Nicht Träume, Visionen müssen es sein. Und wem keine gegeben sind, der macht sie sich eben selbst – oder lässt sie sich von anderen entwerfen. „Wir haben eine Vision für die nächsten Jahre entwickelt“, heißt es in so profanen Zusammenhängen wie der Marktstrategie einer Brauerei oder der Müllentsorgung. 
 
Der Wandel des Wortes Vision ist erstaunlich. Ursprünglich im religiösen, ja mystischen Bereich beheimatet, ist es inzwischen fast gleichbedeutend mit den Worten „Strategie“, „Programm“ und „Plan“ geworden, nur dass es ihnen gegenüber einen hohen, feierlichen Ton anschlägt. 
 
Selbst unter Christen verbindet man mit Visionen immer seltener übernatürliche Schauungen der Glaubensgeheimnisse. Ist z.B. davon die Rede, ein Bischof habe Visionen, wer stellt sich dann wohl einen Kirchenmann vor, der im einsamen Beten ergriffen die Welt Gottes schaut? Fast niemand. Nur bestimmten Kreisen bleibt es vorbehalten, noch heute unter Visionen zuallererst die himmlischen Gesichte begnadeter Seher zu verstehen. So krause und unglaubwürdig vieles davon auch sein mag, es kommt dennoch der eigentlichen Bedeutung von Vision näher als der augenblicklich moderne Gebrauch des Wortes. 
 
In der Heiligen Schrift spielt das Thema eine bedeutende Rolle. Das Alte Testament beschreibt, zumal in den prophetischen Büchern, eine nahezu unüberschaubare Fülle von eindrucksvollen, zuweilen dunklen und schwer verständlichen Schauungen. Im Neuen Testament hört das keineswegs auf. Petrus weist in seiner ersten Predigt am Pfingsttag mit den Worten des Propheten Joel darauf hin: „In den letzten Tagen wird es geschehen, spricht der Herr: Da will ich von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch, und ihre Söhne und ihre Töchter werden weissagen, und die Jünglinge werden Gesichte schauen, und Greise werden Träume haben.“ (Joel 3,1; Apg 2,17)
 
Später wird Petrus durch eine dreimalige, eher unangenehme Vision darüber belehrt, dass er nichts von dem, was Gott für rein erklärt hat, unrein nennen soll (Apg 10,11-16). Im Heiligen Geist sieht der Erzmartyrer Stephanus „die Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen“ (Apg 7,55f.). Paulus wird auf dem Weg nach Damaskus durch eine leuchtende Vision Jesu Christi hingestreckt und bekehrt (Apg 9,4ff; 22,6ff; 26,13ff.), später sogar „bis zum dritten Himmel entrückt“, wo er „unsagbare Worte“ vernimmt, „die einem Menschen auszusprechen versagt sind“ (2 Kor 12,2-4). Von der Apokalypse des Johannes, in der zwischen der erschütternden Christusvision zu Beginn und der Schau des himmlischen Jerusalem am Ende eine Reihe gewaltiger Gesichte steht, braucht hier gar nicht gesprochen zu werden. 
 
Allen diesen Visionen ist eines gemeinsam: Sie sind nicht Menschenwerk, nicht vom Schauenden erdacht, entworfen und entwickelt, sondern stammen von oben. Sie handeln auch von dem, „was droben ist“, nämlich von Gottes Wesen, Willen und Werken. Und sie haben sich bewährt, indem sie der Prüfung des Glaubens und des Lebens standhielten und Frucht trugen für das Reich des Herrn. So sollte es während der ganzen Geschichte der Christenheit bleiben: Immer wieder hat es wirkliche Visionäre gegeben; gottverbundene Beter, denen unverdienterweise die Wahrheiten der Offenbarung in ihrer Herrlichkeit und Lebendigkeit gezeigt wurden und die daraus oft auch Aufträge für die Kirche empfingen. 
 
Denken wir nur an die heilige Juliana von Lüttich (1193-1258), der bereits in jungen Jahren das merkwürdige Bild der Mondscheibe mit einem schwarzen Streifen gezeigt wurde. Erst später erklärte ihr eine Stimme, das Geschaute stehe für den Kreis des Kirchenjahres, in dem noch eine Lücke klaffe: das fehlende Fest zu Ehren des Allerheiligsten Altarsakramentes! Die Botschaft, die Juliana der kirchlichen Hierarchie zu künden hatte, brachte ihr vor allem Spott und Ablehnung, Leiden und Vertreibung ein. Aber ihre Vision bestand den Härtetest; noch zu Lebzeiten der Heiligen wurde in Lüttich 1246 das erste Fronleichnamsfest gefeiert. Bald sollte es sich über den ganzen Erdkreis ausdehnen. 
 
Die vorsichtige, prüfende Haltung der Kirche gegenüber derartigen Phänomenen ist notwendig und hat sich zigfach bewährt. Sie entspricht der Aufforderung des Völkerapostels, prophetische Rede, die ja oft die Folge echter Schauungen ist, nicht zu verachten, alles zu prüfen, das Gute aber zu behalten (1 Thess 5,20f.). Umso wichtiger ist es, die besonderen Gaben Gottes nicht mit jenen „Visionen“ zu verwechseln, die heute leichtfertig in aller Munde sind.




Hinweise:
- mit freundlicher Genehmigung des Verfassers
- der Beitrag erschien bereits im Schweizerischen Katholischen Sonntagsblatt (SKS)
- Bild: Vision des hl. Evangelisten Johannes auf Patmos; Jan van Memmelynghe (etwa –1494)

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